Die Fleischeslust des Vegetariers Daniel  –  Vom Versuch der Versuchung

von Angelika Wörthmüller

Wie so oft an Wochenenden und vor Feiertagen war Chaos auf der Straße. Autos parkten auf beiden Seiten der Straße in zweiter Reihe und standen sich gegenseitig im Weg. Alle wollten sie Einkaufen. Einer hupte laut und schimpfte, weil sich vor ihm eine ältere Dame umständlich aus dem Beifahrersitz schälte und dann noch innehielt, um sich mit ihrem Mann zu besprechen, bevor sie die Autotür zuschlug und Richtung Feinkostgeschäft Rogacki steuerte. Wahrscheinlich kauft sie für eine große Familiengesellschaft ein, dachte Daniel, als der schwarze Mercedes, den ein Mann mit Hut steuerte, sich schließlich doch noch in Bewegung setzte und an ihm vorbei rauschte. Viele würden morgen zu Silvester größere Feiern in größeren Wohnungen machen. So hatte er sich das früher auch gemacht, als er noch mit Heike die große Altbauwohnung hatte, die er dann, als die Trennung unausweichlich wurde, in eine kleine Zweieinhalbzimmer-Wohnung eintauschte. Zweieinhalb und nicht nur ein Zimmer, das war ihm wichtig gewesen bei der Anmietung. Da war noch Platz, da sollte ja wieder jemand kommen, irgendwann. Fünf Jahre hatte er auf das Schicksal gezählt, darauf gehofft, dass es eines Tages einfach passiert und wieder eine Frau in seiner Küche stehen würde, dass da eine zweite Zahnbürste im Bad stehen würde und Schuhe mit Absätzen im Schuhregal neben seinen flachen, schwarzen geschnürten. Doch diese fünf Jahre waren nun auch schon wieder seit zwei Jahren vorbei. Und er musste zugeben: es war nichts passiert.

 

Heute sollte sich das ändern. Daniel war fest entschlossen. Er stellte sich beim Bäcker in die Schlange, direkt hinter die Frau aus dem Mercedes. Hatte er es nicht geahnt? Sie hatte was Größeres vor, hatte vorbestellt, ließ sich drei schon fertig gepackte Tüten mit geschätzt 20 Baguettes rüber reichen, und eine weitere voller Silvester-Pfannkuchen dazu. Wie kommt es, fragte sich Daniel, dass manche Menschen so ein Glück haben und andere, wie er, nicht mal eine einzige Einladung hatten zu Silvester. Er hatte zu viel gearbeitet, er hatte es versäumt, sich um eine Feier zu kümmern und er hatte Päarchen in seinem Bekanntenkreis gesagt, er sei wirklich glücklich, so ganz normal ohne Tamtam ins Neue Jahr zu gehen. Denn das war ihm immer noch lieber, als im Kreise von Päarchen das Sektglas zu heben. Um Null Uhr gab es dann ne Knutscherei rechts und ne innigste Umarmung links und alle hatten sich nur er hatte niemand. Nein, dann lieber aufrecht und mutig alleine bleiben.

 

Daniel starrte die Tüten der Dame aus dem Mercedes an, als wäre sein gesamtes potenzielles Glück darin versteckt. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht hörte, als er an die Reihe kam, ihn die Bedienung ansprach und dann, als er nicht reagierte, einfach den nächsten Kunden drannahm. Als ihm das gerade auffiel und er protestieren wollte, rutschte der Mercedes-Frau eine der dick bepackten, bauchigen Tüte aus der Hand. Daniel sprang hin und hob sie auf. Hilfsbereitschaft gehörte zu den Eigenschaften, die ihm sein Vater eingebläut hatte. Glück bei den Frauen, hatte er gesagt, hast Du nur, wenn Du ein Gentleman bist. Daniel hatte aber das verdammte Pech, dass seine perfekt sitzende Gentleman-Pose immer nur bei verheirateten Frauen zur Geltung kam. Aber er hätte seinem Vater auch gar nichts glauben müssen. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als er fünf war.

 

„Kann ich Ihnen helfen, die Tüten zum Auto zu tragen?“ fragte er die Mercedes-Frau. Er war nichts zu machen, der Gentleman in ihm führte ein Eigenleben. Im selben Moment fühlte er sich etwas unbehaglich. War es nicht auffällig, dass er wusste, dass sie mit dem Auto gekommen war? Würde er zugeben müssen, dass er sie die ganze Zeit beobachtet hatte, und das auch noch voller Neid? Die Dame jedoch schöpfte keinen Verdacht, sie kämpfte mit den anderen, noch nicht aus der Hand gerutschten, aber schwer zu bändigenden Tüten und überdies mit ihrem blonden, vermutlich gefärbten Dutt, der halb auseinanderfiel und lose Haarsträhnen in ihr kräftig geschminktes Gesicht baumeln ließ. „Oh, wie liebenswürdig, das würden Sie tun?“ sagte sie mit rauchiger Stimme. „Mein Mann ist gleich dort in der Nähe“.

 

Eilig verließ sie den Laden, rannte fast schon im Stechschritt zur nächsten Straßenecke, auch die beiden verbleibenden Tüten schienen ihr zur Last zu fallen, die anderen schleppte nun Daniel brav hinterher. Tatsächlich wartete der schwarze Mercedes an der Ecke, wieder in zweiter Reihe und wieder hatte sich hinter ihm eine Schlange gebildete und einige Autos hupten, denn durch den engen Korridor, der verblieb, kam der Verkehr nur schleppend voran. Unbeirrt, als hätte das ganze Huptheater rein gar nichts mit ihm zu tun, saß der ältere Herr zeitungslesend am Steuer. Nun lächelte er fröhlich, als seine Frau zum Auto kam, mit Daniel im Schlepptau, und winkte beiden zu. Er drückte einen Knopf im Wageninneren und hinten sprang der Kofferraum auf.

 

„Vielen Dank, junger Mann“, sagte die Dame, als sie ihm die Tüten abnahm und verstaute„ wir haben es nämlich sehr eilig, wir müssen noch am Friedhof vorbei, zum Grab unseres Sohn. Leben Sie wohl und kommen Sie gesund ins Neue Jahr.“ Sie winkte zum Abschied und schon waren sie abgerauscht. Daniel hatte nur noch ein „ Oh“ und ein „Tut mir Leid“ und „Ihnen auch“ gestammelt, aber er hätte auch gar nichts sagen können, denn sie hätte sie ohnehin nicht mehr gehört. Der Mercedes bot am Ende der Straße um die Ecke. Daniel blieb stehen und starrte in die leere Straße, als ob der Wagen Rauchschwaden hinter sich gelassen hätte. 20 Baguettes und doch kein Glück. Er wusste nicht, ob er nun fröhlicher oder trauriger war als zuvor. Es gab keinen Grund mehr, neidisch auf dieses andere Leben zu sein, und gleichzeitig gab es auch ein kleines bisschen weniger Hoffnung auf das Glück in der Welt. Nicht mal diese Frau, die allen Anschein danach gemacht hatte, schien es gefunden zu haben.

 

Daniel ging zurück zum Bäcker und stellte sich erneut in die Schlange. Er kaufte eine winzige Tafel Hachez-Schokolade. An einem der Bistro-Tische nahm er den Filzstift aus seiner Sakkotasche, den er heute Morgen extra für diesen Moment eingesteckt hatte. Sorgfältig malte er seine Telefonnummer auf die Schokolade und schrieb dahinter in Druckbuchstaben DANIEL und dann noch ein kleines, geschwungenes „for you“. Das war der erste Schritt des Planes, den er nun seit 5 Jahren mit sich rumtrug und x mal in allen Einzelheiten und Facetten durchdacht hatte. So wollte er eine neue Liebe finden, denn irgendwo in dieser Stadt musste sie ja sein – sie, die für ihn bestimmt war und genauso sehnsüchtig war wie er. Er würde sie auf den ersten Blick erkennen und ihr dann einfach die Schokolade in die Hand drücken. Sie wüsste sofort, warum es ginge, denn sie habe ja schon mehrere Male genau dieses Situation geträumt oder zumindest daran gedacht oder würde sie zumindest für möglich halten. Das würde ja schon reichen.

 

Daniel stand nun da. Mit seinem Plan und seiner Schokolade. Er wartete. Sie kam nicht. Weit und breit keine Frau die auch nur ansatzweise der Erscheinung aus seinen in 5 Jahren sorgsam gehüteten Vorstellung entsprach.

 

Daniel dachte nach. Doch, es war ein schöner Plan – aber vielleicht, so dachte er nach 10 Minuten, die er da stand und in denen er begann sich unwohl oder vielleicht sogar ziemlich bekloppt zu fühlen – vielleicht war dieser Plan einfach zu schön um wahr zu sein. Am liebsten würde er sofort kehrt machen und nach Hause gehen. Aber da war nun diese Schokolade in der Hand, mit seinem Namen und seiner Telefonnummer. Und es fühlte sich an wie Verrat seiner selbst, wenn er jetzt einfach alles hinschmiss.

 

Nein, er musste bleiben. Wenigstens noch ein bisschen. Er überlegte, ob er die Schokolade so zufällig ungeschickt in den Händen halten sollte, damit sie zufällig zerschmolz und zu unansehnlich wurde um sie einer Dame zu übergeben. Aber das wäre feige und er hatte doch heute morgen beschlossen, mutig zu sein. Endlich!

 

.Daniel hatte Herzklopfen, als er die Schokolade in die Manteltasche der grauen Winterjacke gleiten ließ. Er hatte Angst, sich grenzenlos zu blamieren. Aber noch mehr Angst hatte er davor, sich morgen im Spiegel zu sehen, wenn er jetzt kniff.

 

Er ging in das hintere Teil des Feinkostgeschäftes und betrat einen Raum der so groß war wie eine Turnhalle - übervoll mit Menschen, die an Stehtischen aßen, auf Barhockern um eine Theke herum saßen, auch dort mampften und schluckten oder in langen Schlangen anstanden und nach Käse, Wurst und frischem Fisch verlangten. Aus aller Herren Gewässer waren die Fische hierher transportiert worden, Hummer, Hecht, kanadischer Lachs oder Forellen lagen in Eis gebettet, die Schuppen glänzten im Neonlicht, und verlieren den Tiere eine Frische, als wären sie eben den weiten hierher geschwommen und seien gerade erst an Land gegangen. Ihre Augen verrieten etwas anders. Fahl und stumpf lagen sie in der Augenhöhle.

 

Daniel hatte schon lange keinen Fisch mehr gegessen. Erst kein Fleisch mehr, dann auch keinen Fisch mehr. So hatte das Heike damals beschlossen und er hatte mit gemacht, voller Bewunderung für ihre Entschlossenheit. Ihm war nicht so wichtig gewesen, was man aß, Hauptsache es schmeckte, aber ihre Argumente hatten ihn überzeugt. Wozu Tiere töten, wenn es ohne ging? Die Massenproduktion von Fleisch war ekelhaft, von Fisch, der inzwischen massenweise gezüchtet wurde, genauso. Und die Meere wollte er auch nicht mit leer fischen. Sie hatten die Ernährungsumstellung gemeinsam durchgezogen und gemeinsam ihre Erfolge gefeiert. Erst eine Woche fleischlos – da hatten sie sich gegenseitig beglückwünscht, dann einen Monat fleischlos – da hatten sie eine Flasche Roten aufgemacht. Und schließlich ein ganzes Jahr ohne Fleisch und Fisch – das hatten sie in der Bar an der Ecke gefeiert. Heike konnte sowas, die Feste feiern wie sie fallen, und noch viel mehr. Sie fehlte ihm immer noch.

 

Ziellos schlenderte Daniel durch die große Halle. Niemand beachtete ihn, alle waren beschäftigt. An einem der hinteren Tische sah er eine Frau, etwa sein Alter. Sie saß allein an einem Tisch auf einem Barhocker, aß Würstchen mit Kartoffelsalat und las etwas auf ihrem Smartphone. Daniel musterte sie aus sicherer Entfernung. Trug sie einen Ehering? Er konnte keinen entdecken. Aber vielleicht würde gleich ihr Freund zu ihr an den Tisch kommen, mit einem dritten Würstchen oder gar einem halben Hähnchen.

 

Daniel schlenderte weiter durch die Tischreihen und schielte so unauffällig wie möglich in Richtung Würstchen-Dame. Hochhackige Stiefel, kurzer Rock, eleganter Blazer. Nicht wirklich schlank, eigentlich sogar ein bisschen dick, aber das störte ihn nicht. Nicht jetzt jedenfalls. Sehr rote Lippen, volle Wangen. Ein bisschen bayrisch dachte er, sicher würde sie Knödel mögen.

 

Sie biss in ihr zweites Würstchen. Immer noch war kein Mann an ihrem Tisch. Das war seine Chance. Daniel fühlte noch einmal die Schokolade in seiner Manteltasche. Dann ging er mit festem Schritt zum Tisch

 

„Ist hier noch frei?“ fragte er. Die Würstchen-Dame blickte kurz auf und nickte. Sie hatte den Mund voll und war dabei, eine Nachricht zu schreiben. Daniel setzte sich auf den zweiten Barhocker am Tisch und fühlte sich einfach nur gut. Er hatte den ersten Schritt geschafft, er war nun tatsächlich an einem Tisch mit einer Frau. Er fand sie interessant. Er hatte sie angesprochen und sie war nicht weg gelaufen. Doch ehe er sich so richtig in Selbstzufriedenheit suhlen konnte, fiel ihm auf, dass er möglicherweise gar keine gute Figur machte. Er hatte ja gar nichts zu Essen. Wie dämlich er da nun neben ihr saß – sie aß und er starrte auf ihren Teller, um nicht auf sie zu starren. Unmöglich konnte er sich jetzt in eine der langen Schlangen stellen, um etwas zu holen. Bis er zurück war, würde sie längst aufgebrochen sein. So leicht konnte er seine hart erkämpfte Beute nicht wieder los lassen.

 

Daniel fühlte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn perlte, er zog seine Winterjacke aus und setzte sich darauf. Seine Bewegungen mussten etwas hektisch gewesen sein, denn nun wurde die Dame auf ihn aufmerksam und sagte in breitem Bayrisch: „Hob I earna nervös gmocht?“ und grinste ihn an. Daniel verstand kein Wort, vermutete aber, dass sie ihn auf die fehlende Speise angesprochen hatte und sagte schnell:“ Ich weiß noch nicht was ich essen soll, ich überlege noch“ – „ ah so“, die Dame grinste wieder und das in einer Art, die Daniel sehr nervös machte, es schien ihm fast so, , als ob sie sich über ihn lustig machen wollte: Hastig tastete er nach seiner Schokolade, sie steckte noch in der Jackentasche, das war gut.

 

„Wollns a Würschtla probieren? Vielleicht hilft‘s bei der Entscheidung“ , sagte sie nun grinsend und hielt ihm tatsächlich ihr angebissenes Würstchen direkt vor den Mund. Daniel starrte erst auf die Wurst und dann auf die Frau. Wie sollte er reagieren? War es nicht geradezu ein Zeichen außerordentlicher Zuneigung, dass sie ihm ihr Würstchen anbot? Hieß das nicht, dass er geradewegs auf die Zielgerade zuschoss? Sollte, ja musste er da nicht geradezu, sein Vegetarier-Dasein umgehend vergessen, zumindest für diesen einen Bissen? Aber es ekelte ihn vor dem Wiener Würstchen und wo sollte das hinführen, wenn er schon im ersten Moment der Begegnung sich verleugnete oder wich womöglich auf ihren Teller übergeben musste?

 

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Schon verschwand das Würstchen, das eben noch fast in seinem Mund hätte sein können, im Schlund der runden Schönen aus dem Land der Bajuwaren. „Wenns koit is, schmeckts nimmer“, sagte sie schmatzend und nahm einen Schluck aus dem großen Weißbierglas, das vor ihr stand. „Verzeihung, ich bin Vegetarier“, stieß Daniel hervor in der Hoffnung, nun zumindest Verständnis zu ernten und vielleicht sogar ein möglicherweise wenig ersprießliches, aber immerhin ein Gespräch beginnen zu können. Noch hatte er nicht verloren, so ein kleiner Fauxpas ließ sich sicher ausbügeln.

 

Die Würstchenfrau hatte noch nicht runtergekaut, da brach sie in schallendes Gelächter aus, so laut, dass sich Menschen am Nebentisch zu ihnen umdrehten, was Daniel einen erneuten Schweißausbruch bescherte. „ A Vegetarier! Mogst mei Würschtl net, weilst selber a oarms Würschtl bist!“ Sie lachte wieder und riss den Mund dabei so weit auf, dass Daniel die kleingekauten Würstchenstückchen auf ihrer Zunge beben sah. Er ekelte sich ein bisschen. Schlimmer war aber: er fühlte sich wie ein Schuljunge, der von der Klasse verlacht wird, weil er das Einmaleins nicht kann. Ohne etwas zu sagen, stand er auf, klemmte seine Jacke unter den Arm und ließ die Würsteldame, die immer noch über ihn lachte, einfach sitzen. Er kämpfte sich durch die Menschenmenge hindurch und stürzte ins Freie. Erst draußen zog er seine Jacke wieder an und tastete erneut nach der Schokolade. Nein, diese Frau hatte sie wirklich nicht verdient.

 

Jetzt brauchte er erst einmal ein Bier. Er setzte sich in ein kleines Cafe an die Ecke. Er war der einzige Gast, der Barkeeper freute sich, dass Kundschaft kam. Daniel war noch nie hier gewesen, es war zu dunkel für seinen Geschmack, die Fenster waren mit Pflanzen völlig zugestellt, die offenbar noch nie jemand entstaubt hatte, die Stühle waren unbequem und die Tische aus billigem Aluminium. Aber das war jetzt alles egal. Er brauchte einen Rückzugsort. In dieser hässliche Kneipe würde die bayrische Lachtante sicher nicht auftauchen.

 

Aber was wurde nun aus ihm und seine festen Entschluss, seiner Frau-Losigkeit heute ein Ende zu setzen? Sollte er einfach nachhause gehen und seinen Plan aufgeben? War es nicht sowieso eine Schnapsidee gewesen? Oder gab es noch Hoffnung. Immerhin, fiel ihm auf, hatte ihn die Bayern-Dame ja gar nicht von Anfang für indiskutabel befunden, sie hatte ihm ja sogar ihr Würstchen angeboten. Ganz so schlecht kam er also offenbar gar nicht an. Und vielleicht wäre sogar was draus geworden, wenn er ihr Würstchen gewollt hätte.

 

Je länger er nachdachte, umso klarer schien ihm, dass er soeben eine riesige Chance verspielt hatte, und das nur, weil er Vegetarier war! Früher mochte er ja Würstchen, er hatte ja geradezu gejubelt, wenn seine Mutter zuhause Würstchen mit Kartoffelsalat machte – gerade solche Würstchen wie er sie eben hätten haben können. Und wie oft hatte er sich früher als Kind im Metzgerladen eine Wienerwurst erbettelt! Und wie freundlich hatte die hübsche Metzgerstochter damals immer gelächelt, wenn sie ihm die Wienerwurst über die Theke gereicht hatte. Frauen mögen Männer, die Würstchen mögen, dachte Daniel. Da brauchte er sich ja gar nicht zu wundern, dass er keine Freundin hatte. Was hatte ihm Heike da nur eingebrockt! Nicht nur, dass sie ihn verlassen hatte, nein, sie hatte einen nicht vermittelbaren Kerl aus ihm gemacht.

 

Daniel trank sein Bier aus, bezahlte und ging nach draußen. An der nächsten Straßenecke war eine Curry-Wurst-Bude. Sollte er einfach eine kaufen und sich damit an einen der Bistrotische auf dem Gehsteig stellen? Wer weiß, vielleicht war das der Köder, den Frauen brauchten? Als Daniel die Wurst bestellte, spürte er, wie ein Gefühl in ihm hochstieg, das er schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Es war so etwas wie Stolz. Ja, tatsächlich stolz. Das war irgendwie absurd. Stolz - wegen einer primitiven Currywurst. Aber er tat etwas, was er sich selbst verboten hatte, nachdem Heike es ihnen beiden verboten hatte. Er war sozusagen frech, er traute sich was und das war eigentlich schon lange nicht mehr seine Art. Früher als Junge, da war er einfach über den Zaun geklettert und hatte die Zwetschgen aus Nachbars Schrebergarten geholt. Die hatten so wunderbar süß geschmeckt. Daniel schob sich das erste Stück Currywurst in den Mund. Er kostete es so, wie er es als Kind getan hat, als er zum ersten Mal eine Kiwi oder eine Himbeere gegessen hatte. Neugierig, interessiert. Wirklich lecker fand er die Wurst eigentlich nicht. Aber das machte nichts, es ging ja um seinen Plan. Und um seine neue Strategie.

 

Da kam doch auch schon eine Frau die Straße entlang, die ganz passabel aussah. Sie kam näher, ja sogar fast auf ihn zu, kannte er sie vielleicht sogar? Stimmt, das war die Susi aus dem Bioladen. Hallo Susi, rief er und winkte, er war auf einmal unglaublich gut gelaunt, hätte sie beinah umarmt. Er mochte Susi, das spürte er nun ganz deutlich, vielleicht sogar mehr als ihm bewusst war, als er das letzte Mal im Bioladen Brot bei ihr bezahlt hatte. „Hey Susi, wie geht’s Dir?“ „ Gut“, sagte sie, „Und Du? Du isst so ne Scheiß-Wurst? Ich dachte, Du bist Vegetarier!“

 

„Bin ich auch, ich meine, eigentlich. Aber heute ist mal ‚ne Ausnahme. Man kann doch mal ‚ne Ausnahme machen, oder?“, sagte Daniel.

 

Susi machte gar kein so fröhliches Gesicht, wie er selbst. „Na ja, entweder oder“, finde ich. Man ist ja auch nicht ein bisschen schwanger“, sagte sie. „Sorry, aber hätte ich echt nicht gedacht von Dir, ich muss weiter, Guten Rutsch!“

 

Weg war sie. Daniel sah auf seine Curry-Wurst. Und dann sah er Susi nach, die mit eiligem Schritt davon ging. Sie war also doch kein Glücksbringer, die Wurst, zumindest, was Susi anbetraf. Er nahm trotzdem noch einen weiteren Bissen. Sie schmeckte immer noch nicht. Er holte sich ein Bier und probiert noch einmal. Das einzige, was ihm an dieser Wurst gefiel, war, dass ihr Verzehr das Gewürz des verbotenen Aktes in sich trug. Wie Susi ihn angeguckt hatte! Als ob er gerade vor ihren Augen das Schwein, was in dieser Wurst steckte, bei lebendigem Leibe ins Ohr oder in den Bauch gebissen hätte. Und während er sich vorstellte, dass er so ein Schwein in den Bauch biss, musste er Grinsen.

 

Der Tag war nun irgendwie im Eimer, aber wenn Daniel eines in den letzten fünf Jahren gut trainiert hatte, dann war das, sein Schicksal mit Fassung zu tragen. Er blieb mit seiner angegessenen Currywurst stehen, schlürfte weiter an seinem Bier und beobachtete das Treiben auf der Straße. Gerade wälzte sich wieder ein ganzer Pulk Menschen den Gehsteig entlang. Ein Mädchen ging an der Hand eines Mannes, der vermutlich ihr Vater war. Der schleppte eine schwere Tüten und trug einen Rucksack, das Mädchen hielt einen Luftballon in der Hand – auf metallicgelbem Untergrund ein schmelmisch zwinkernder rosaroter Panter. Fröhlich schaute das Mädchen immer wieder nach oben als wollte es mit dem Panter flirten. Es hatte zwei blonde Zöpfe, Daniel schätzte es auf vier oder fünf Jahre.

 

Als das Mädchen mit dem Ballon gerade an Daniel vorbeigingen, rempelte ein Jugendlicher, der sich hektisch einen Meg durch den Pulk bahnte, das Mädchen an und dabei rutschte die Ballonschnur aus seiner Hand. Der Ballon stieg etwa einen Meter neben Daniel hoch, er versuchte die Schnur zu greifen, aber erwischte sie nicht. Der Ballon stieg in die Höhe, Daniel sprang, aber bekam ihn wieder nicht zu fassen. Das Mädchen fing an zu weinen und schrie „Papa, mein Ballon.“ Der setzte die schwere Tüte ab, konnte mit dem Rucksack aber nicht schnell genug dem Ballon hinterherspringen. Der rosarote Panter glitt weiter in die Höhe. Dann entdeckte Daniel einen Betonklotz, der als Boller diente. Er hechtete los, riss dabei seine Pappschale mit der Currywurst zu Boden, sprang auf den Betonklotz und von dort griff er erneut nach dem Ballon. Diesmal erwischte er ihn.

 

Das Weinen im Gesicht des Mädchens wich jetzt einem Strahlen, als Daniel dem Mädchen den Ballon übergab. „Danke“ sagte es mit leuchtenden Augen. „Frohes Neues!“ wünschte der Vater. „Bin Ihnen wirklich sehr dankbar“.

 

Bevor das Mädchen wieder die Hand des Vaters ergriff, winkte es Daniel zum Abschied und Daniel winkte zurück. Er ging zurück an den Stehtisch um sich wieder seiner Currywurst zuzuwenden und fand sie als rote Matsche auf dem Boden. Ein Hund war gerade dabei, sich den Überresten anzunehmen. Daniel war für einen kurzen Moment verdutzt. Dann musste er grinsen und aus dem Grinsen wurde ein Lachen und aus dem Lachen eine Lachsalve. Daniel schüttete sich aus vor Lachen, er konnte sich kaum mehr halten. Er stand auf dem Bürgersteig neben der zu Boden gegangenen Currywurst und geriet geradezu in einen Lachkrampf. Ein Betrunkener gesellte sich zu ihm und lachte mit, bis es ihm zu bunt wurde und er weiter zog. Daniel lachte immer noch. Er lachte sich alles aus dem Leib, was ihm auf der Seele lag. Er lachte Tränen und die Menschen um ihn, fingen an zu tuscheln und mutmaßten, dass er Drogen nahm. Doch Daniel lachte, bis er fertig war. Alles war so unglaublich herrlich absurd. Wurst oder Nicht-Wurst, als ob es um Sein oder Nichtsein ginge. Die eine Frau liebte die Wurst, die andere hasste die Wurst und ihn gleich mit dazu, weil er es wagte, hinein zu beißen. Und der Hund war ein Hund, und roch, was ihm gefiel, und die Welt drehte sich für alle gleichermaßen - für die Frauen, für die Hunde, für ihn und für das Kind, dessen leuchtende Augen ihn plötzlich an das erinnerten, was er immer so geliebt hatte – den rosaroten Panther und das Spaßige in der Welt.

 

Daniel trank die letzten Schlucke seines Biers und machte sich auf den Heimweg, nicht ohne die leere Bierdose. Er schmiss sie vor sich auf den Boden und begann, sie vor sich her zu kicken. Das hatte er schon lange nicht mehr gemacht, die ersten Kicks waren ziemlich dilettantisch, aber dann traf er die Dose von Mal zu Mal besser. Er hatte plötzlich seine alte Straße vor Augen, in der er seine Kindheit und Jugend verbracht, dachte an Fußballspielen auf dem Garagenhof, endlose Stunden beim Drachensteigen und Grillwürste im Sommer. Ab sofort würde er essen, worauf er Lust hatte. Wurst hin - Wurst her. Er würde seinem Geschmackssinn folgen.

 

Daniel sah nicht sofort nach den Autos, als er die Straße überquerte, er konzentrierte sich zunächst auf sein Gehör und überprüfte erst dann, ob er richtig lag und losgehen konnte. Dann versuchte er, die Bierdose in einem Kick bis auf die andere Straßenseite zu kicken. Der Schuss war gut. Allerdings verfehlte die fliegende Dose nur haarscharf den Kopf einer Radfahrerin. Die bremste so scharf, dass ihr die basecap vom Kopf flog und auf der Straße landete.

 

„Spinnst Du?“ fragte sie, als sie das Rad zum Stehen brachte. Doch Daniel war immer noch in der fabelhaft unbeschwerten Stimmung des Jugendlichen, an den er sich erinnerte, hob schweigend die Basecap auf, klopfte den Dreck ab und stellte den Riemen der Kappe etwas enger.

 

„Die sitzt viel zu locker. Ich mach sie mal enger, sonst verlieren Sie die ja gleich wieder.“

 

Er setzte sie der verdutzten Radfahrerin wieder auf.

 

Dann holte er die Schokolade aus der Manteltasche und sagte:

 

„Hier, ne kleine Wiedergutmachung. Brauch ich eh nicht mehr.“

 

Er wartete keine Antwort ab, lief weiter, begann, kickte seine Bierdose wieder den Gehsteig entlang zu kicken, hielt dann nochmal kurz inne und drehte um

 

„ Ach ja, Guten Rutsch ins Neue Jahr! “

 

Die Radfahrerin, eine Frau mit Parka und Jeans und grünen Augen, etwa in Daniels Alter, stand verdutzt da und sah sich die Schokolade an, auf der Daniels Telefonnummer geschrieben war. „

 

„Was war das denn für ne seltsame Anmache?“ rief sie ihm nach

 

„Ach vergessen Sie es, nicht so wichtig“

 

Daniel sah ihr kurz in die Augen, dann drehte er sich um und ging kickend und pfeifend weiter.

 

Als er nachhause kam, legte er sich samt Klamotten einfach aufs Sofa und schlief sofort ein. Nicht einmal mehr die Winterjacke zog er aus. Um 22 Uhr wurde er durch das Klingeln seines Handys geweckt. Eine Frauenstimme war am Apparat. „Hey Schoko-Daniel - Kommst Du zu meiner Silvester-Party?“

 

*  *  *